Mai 1667 - Ein Raunen geht durch die Menge, die sich auf dem Marktplatz versammelt hat. Männer und Frauen, Alte und Kinder, gekleidet in Sonntagsroben oder ihre Arbeitskleidung vom Feld. Die Haare teils zu ordentlichen Zöpfen gebunden, teils unter Tüchern und Hüten versteckt. Die Sonne verschwindet langsam hinter den wenigen Gebäuden der kleinen Siedlung, spiegelt sich in den Fenstern des Rathauses und taucht die Menschen in ein rotgoldenes Licht. Rot, orange, gelb - dies sollten die Farben des heutigen Abends werden. Bald wird der Platz von schweren Schritten erfüllt, schwere Stiefel auf unebenem Boden und dem Fluchen, dem Wimmern, den letzten, verzweifelten Versuchen einer rothaarigen Frau ihre Unschuld zu beteuern. Sie zerrt an ihren Fesseln, versucht sich zu befreien, ihre Mitmenschen, ihre Nachbarn und Freunde in Panik um Hilfe suchend ansehend. Doch die Menschen teilen sich, weichen ihrem Blick aus, murmeln "Hexe", "Satans Brut", geben einen schmalen Pfad frei zu einem Pfahl umgeben von Holz und Binzen, in der Mitte des sonst so fröhlich belebten Platzes. Die Frau wird hinauf geführt auf eine schmale Plattform, mit Seilen um Arme, Taille und Füßen an den Scheiterhaufen gefesselt. "Aethel Townsend. Der Hexerei und dem Bündnis mit dem Teufel für schuldig befunden und zum Tode verurteilt durch Feuer", verkündet der Minister der kleinen beschaulichen Siedlung Mitten im Wald. Von der Seite wird ihm eine Fackel gereicht. Die Sonne versinkt am Horizont. Nur wenige Sekunden später beginnen rotorangene Flammen am trockenen Holz zu züngeln. Die Menge tritt vom Feuer zurück - und dann hallen die ersten schmerzverzerrten Schreie über den Platz. Oktober 2006 - Ein Klatschen erfüllt die Menge auf dem Rathausvorplatz, als das weiße Tuch fällt und den Blick auf eine Kupferstatue freigibt. Eine Frau mit langem, wehendem Haar, umgeben von lodernden Flammen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Die Menge beginnt zu tuscheln. Es fallen Begriffe wie "grotesk", "geschmacklos", "eine Schande". Kinder verstecken ihre Gesichter in den Hosenbeinen oder Rockfalten ihrer Eltern, Andere von ihnen schauen fasziniert, gebannt, zu dem zweieinhalb Meter hohen Monument auf. Einige Frauen und Männer schütteln enttäuscht, gar angewidert ihre Köpfe und wenden sich ab, um den Platz zu verlassen. Die Sonne hinter den Baumwipfeln und Hausdächern taucht die kupferne Frau in ein goldenes Licht, lässt die Flammen beinahe real erscheinen. 339 Jahre nach ihrer Hinrichtung wurde Aethel Townsend post mortem begnadigt. Ihr Denkmal auf dem ehemaligen Marktplatz Ashburys sollte von nun an für immer daran erinnern, was Hysterie und Spaltung in Parteien mit Menschen anrichten konnten. Januar 2021 - Musik schallt über den Vorplatz des Rathauses. Eine bunte Menschenmenge hat sich hier versammelt, schaut gespannt auf die große Uhr auf der Vorderseite des alten Gebäudes. Über einen Lautsprecher fällt die erste Zahl eines Countdowns und die Menschen, Werwölfe, Hexen, junge und alte, Eltern mit ihren Kindern, Teenager mit ihren Freunden, Paare, Wechselbälger, Feuerputze und Leprechauns, stimmen fröhlich in den Countdown ein. "3, 2, 1... Happy New Year!" Über ihren Köpfen explodieren Feuerwerksraketen, in allen Farben des Regenbogens glitzernd, tauchen den Platz in bunte Lichtblitze und Geräuschen von Kanonenkugeln. Die Menschen umarmen sich, es werden Küsse und Wünsche für das neue Jahr getauscht. Sie sind ausgelassen, fröhlich. Doch nur wenige Meter von ihnen entfernt steht Aethel Townsend auf ihrem Podest und beobachtet sie aus leeren Augen, ihr stummer Schrei in all dem Lärm ungehört. Die Vergangenheit der Kleinstadt ist eine düstere. Eine Gute Nacht Geschichte, wie sie wohl nur die Brüder Grimm hätten erdenken können. Dennoch fühlen sich hier nicht bloß Menschen, sondern auch Hexen und andere Wesen wohl. Es sind die dichten Wälder, die blühenden Felder und der klare Fluss, die diesem Ort ein beinahe märchenhaftes Antlitz verleihen. Die Statue der Aethel Townsend auf dem Rathausvorplatz spaltet das Städtchen noch immer. Viele magische Bewohner sehen sie als eine Beleidigung, ein Zeichen der Unterdrückung, andere erkennen darin ein Mahnmal. Jugendliche erlauben sich hin und wieder einen pietätlosen Scherz mit ihr, ziehen ihr Unterwäsche, Schals oder Mützen auf, beschmieren sie mit Parolen und umwickeln sie mit Toilettenpapier und doch werden jedes Jahr am Gedenktag der Hexenverfolgungen weiße Blumen vor ihr niedergelegt und Touristen pilgern nach Ashbury um sie zu fotografieren. Sie ist ein Teil der Kleinstadt, wie die Werwolf-Familie, die gegenüber der Kirche lebt, oder die rothaarige (eindeutig nicht magische) Familie, die in Besom Square ein Ladengeschäft mit magischen Tinkturen betreibt.
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01.02.2021, 18:31
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